Rezension zu Max Frischs "Stiller"

›Du sollst dir kein Bildnis machen!‹

Was Max Frischs "Stiller" (1954) zu einem so herausragenden und komplexen Werk macht, ist nicht eine besonders stilisierte oder anspruchsvolle Sprache. Es ist auch nicht die Handlung, die zwar fesselt, aber rasch erzählt ist. Vielmehr sind es die tiefen Einblicke in die Seele des Protagonisten; in seine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen und Bewusstseinsprozesse. Stiller ist eine durchdachte, ebenso hochinteressante wie prekäre Figur, deren Schicksal der Leser gefesselt miterlebt.

 

 

Die wahre Kunst Frischs besteht aber darin, die Subjektivität und Perspektivität seiner Figuren sprachlich überzeugend darzustellen. So erhält der Leser Einblicke in Situationen, die zuerst aus der Sicht Stillers wahrgenommen werden – später aber wechselt die Perspektive und dieselbe Situation wird erneut geschildert, diesmal aber aus der Perspektive und Gefühlslage der Geliebten, die das Geschehen ganz anders erlebt, empfindet und deutet. So haben wir es mit gänzlich differierenden Eindrücken und Erlebnissen zu tun, die aber doch auf ein und dieselbe Situation rekurrieren. Und eben diese Beziehungen zwischen den Figuren sind es denn auch, die uns so authentisch und überzeugend erscheinen und die den Roman zu etwas ganz Besonderem machen.

 

Kernthema des Textes ist dabei die Frage nach der eigenen Identität, nach der Eigen- und Fremdwahrnehmung. – Wer hat sich nicht selbst schon einmal gewünscht, ein neues Leben zu beginnen, alles Vergangene hinter sich zu lassen, in ein anderes Land zu reisen und als neuer Mensch alles anders zu machen? … Um dann aber am Ende festzustellen, dass das Leben der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, sie prägt und beeinflusst – dass es also letztlich unmöglich ist, sich von Grund auf zu ändern. Und selbst wenn dies teilweise gelingt: die Freunde und Bekannten kennen uns noch immer als denselben Menschen, der wir vor unserer ›Verwandlung‹ waren und sehen uns so, wie sie uns schon immer gesehen haben und sehen wollten. Eben dies ist das grundlegende Problem des Bildhauers Stiller.

 

Wir machen uns ein Bild von anderen Menschen, sehen sie in bestimmten Rollen, nehmen sie so wahr, wie wir sie wahrnehmen wollen. Auch der ›stille‹ und selbstbezogene Stiller will zu seiner Ehefrau Julika vordringen, sie zu einer anderen Person machen; einer Person, die fähig ist zu lieben. Er sehnt sich zwanghaft danach, von ihr geliebt zu werden – will das Bild, das er sich von ihr gemacht hat, verwirklichen. So erhebt er sich zum bildenden Schöpfer und formt sie im buchstäblichen Sinn in seinen Kunstwerken. Die lebendige Julika aber lässt sich nicht formen, bleibt kalt und tot wie seine Werke – und daran zerbricht der liebesbedürftige Stiller.

 

Wenn es einen Appell gibt, den uns der Roman auf den Weg geben möchte, so ist es dieser: »Jedes Bildnis ist eine Sünde. Es ist genau das Gegenteil von Liebe […]. Wenn man einen Menschen liebt, so läßt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist trotz allen Erinnerungen einfach bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen, wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis«.