Hero und Leander

Grausig durchpeitschten die stürmischen Winde das tosende Meer. Die finsterste Winternacht war hereingebrochen. Die unheilvollverkündende Dunkelheit hatte das Licht des Lebens mit sich genommen. Blind war die Welt geworden. Der Mond war vom Himmel verschwunden, die Sterne schienen von der Unendlichkeit des Universums verschlungen worden zu sein. Stürmisch erhoben sich die Wellen und schlugen gegen die scharfen Klippen, als Leander sich ins kalte Wasser begab. Er hatte keine Angst, denn er dachte nicht an das Unwetter. Seine Gedanken waren bei Hero. Gewiss wartete sie schon auf ihn, denn die Lampe brannte.

 

Langsam schwamm er den gewohnten Weg, denn die hohen Wellen hinderten ihn am rascheren Vorankommen. Doch achtete er dessen nicht. Der wahre Sturm tobte in seinem Herzen, er übertönte den prasselnden Regen, den pfeifenden Wind und das stürmische Meer. – Bald würde er sie wiedersehen! Die geliebte Priesterin aus Sestos! Die schönste unter den Schönen! Die Jungfrau mit den zartesten Gliedern, dem dunkelsten Haar und dem lieblichsten Gesicht! – Wie lange ihm zuweilen die Tage doch vorkamen – und wie kurz die seligen Nächte! Doch bald, ja bald würde er bei ihr sein und sie wieder in seine Arme schließen können!

 

Ein gewaltiger Donner riss ihn aus seinen Gedanken und er erschrak. Blitze schossen plötzlich nieder und erst jetzt ahnte er, dass er sich freiwillig in Gefahr begeben hatte. Für eine Sekunde erleuchteten sie das weite, finstere Meer, das ihn zu verschlingen drohte. – Da schlug ihm sein Herz gegen die Brust: Wo befinde ich mich? Wohin hat mich die Dunkelheit, die Achtlosigkeit geführt? – Schwimme ich nicht schon viel zu lange? Bin ich vom gewohnten Wege abgewichen? Bin in Verirrung ich geraten?

 

Das Meer ergriff ihn gewaltsam. Immer wieder umklammerten ihn die eisigen Wellen und die allumgebende Finsternis benahm ihn der Hoffnung, seine Geliebte je wiederzusehen. Langsam ließen seine Kräfte nach. Verzweifelt blickte er um sich und hoffte die aufgestellte Leuchte zu entdecken, die ihm sonst immer den rechten Weg gewiesen hatte. Vergebens.

 

Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf Sestos, als Hero, besorgt um ihren Leander, mit ihrem Morgengebet die Göttin der Liebe anrief. ›Oh, hohe Göttin! Wo ist Leander letzte Nacht nur geblieben? Habe ich nicht vergeblich auf ihn gewartet? – Oh, dass ihm in jenem fürchterlichen Sturm nichts passierte! – Oh bitte, höchste Göttin! Beschütze unsere Liebe, beschütze meinen Leander! Nichts weitres wünsch’ ich mir.‹

 

Nachdem sie das Gebet geendigt hatte, verließ sie ihren Turm und begab sich zum Strand. Mit Schrecken und Schaudern erkannte sie ihren Leander, bleich, mit kalten Lippen, vom salz’gen Meere angespült. Schmerz durchfuhr die zarte Brust. ›Leander!‹, schrie sie in Verzweiflung, warf sich ihm hin und küsste ihn unter Tränen. Doch kalt und blau waren die Lippen, die sie sonst so glücklich gemacht hatten. ›Bist du nicht mehr, will ich nicht sein!‹, rief sie endlich weinend aus. So stieg sie hoch auf ihren Turm, sah hinab und sprach bei sich: ›Poseidon ist ein arger Gott, weil er mir den Liebsten nahm! Doch mich, mein Leben, opfre ich der höchsten, größten Göttin auf! Denn im Hades wird sie ihre Priesterin Hero mit dem geliebten Mann vereinen. – Acheron, oh nimm mich auf und treib mich zu Leander hin!‹ So klagte sie in ihrem Leid und stürzte sich hinab in die Tiefe.

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