Frau L. und Herr H.

»Guten Tag, Herr H.«

»Guten Tag.«

»Ist Frau L. auch im Hause?«

»Wollen Sie schon wieder zu ihr?«

»Ich glaube nicht, dass Sie meine privaten Angelegenheiten irgendetwas angehen, Herr H.!«

»Na ja, es ist schon auffällig, wie oft sie in letzter Zeit hier hereinschneien.«

»Frau L. ist eine sehr nette Frau.«

»Halten Sie sich bloß fern von ihr!«

»Wieso das denn? Sie sind doch nicht ihr Partner, oder?«

»Gott bewahre! Ich möchte Sie bloß warnen. Denn, wie es mir scheint, haben Sie aus den ersten Begegnungen mit Frau L. nichts gelernt!«

»Das ist lange her.«

»Vielleicht ist es schon zu lange her. Wahrscheinlich haben Sie bloß vergessen, was Sie Ihnen angetan hat.«

»Erinnern Sie mich bitte nicht an diese Zeiten. Ich lebe im Hier und Jetzt.«

»Früher haben Sie meinen Rat sehr oft geschätzt.«

»Ja. Aber in diesem Augenblick wünsche ich ihn nicht.«

»Das glaube ich. Es ist alles wie beim letzten Mal.«

»Ist es nicht!«

»Das wollen Sie sich doch nur einreden, damit sie sich besser und sicherer fühlen. Es ist genau dasselbe. Doch vor dieser Wahrheit sind sie blind, weil sie nur ein Ziel verfolgen.«

»Welches Ziel meinen Sie, Herr H.?«

»Das Ziel, das Sie nie erreichen werden, weil es für sie unerreichbar ist. So haben Sie das Bestreben, Frau L. zu sehen und sie besser kennenzulernen, obwohl Sie wissen, dass dies keinen Sinn haben wird!«

»Frau L. hat mich selbst zu ihr nach Hause eingeladen. Ich folge lediglich ihrem Wunsche.«

»Und haben keine Hintergedanken dabei? – Das glaube ich nicht. Sie werden versuchen ihr näher zu kommen.«

»Möglich.«

»Sie werden scheitern. So wie Sie bisher immer an ihr gescheitert sind. Lernen Sie denn nichts aus ihren Fehlern? Begehen Sie diese immer und immer wieder neu?«

»Ich lerne durchaus aus meinen Fehlern. Natürlich will ich ihr näher kommen. Aber nicht in der Weise, wie Sie sich das denken. – Ich möchte sie nur besser verstehen!«

»Pah! Sie wollen sie besser verstehen! – Das haben in diesem Hause schon viele Männer versucht! Und nicht nur die Männer! Auch die Frauen haben ihre Probleme mit Frau L.! Ich kenne niemanden in der gesamten Nachbarschaft, der diese Frau versteht! Sie ist einfach undurchschaubar.«

»Da mag wohl was dran sein. Aber ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich werde es zumindest versuchen.«

»Ich will Ihnen ja Ihren Glauben nicht nehmen. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Seit über fünfzig Jahren lebe ich schon in diesem Mietshaus und in all der Zeit gab es noch niemanden, der es länger als drei Jahre mit Frau L. ausgehalten hätte.«

»Ich habe auch nicht vor, ihr Mann zu werden.«

»Aber Sie finden Frau L. doch attraktiv?«

»Gewiss. Gewiss.«

»Und trotzdem wollen Sie sie nur besser kennenlernen? Sie verstehen lernen? – Kaum glauben Sie sie verstanden zu haben, desto vernarrter werden Sie in Frau L. sein! Sie werden sich Zeit nehmen – viel Zeit – und irgendwann ist es dann aus. Dann werden Sie wieder zu mir kommen und sich ausheulen. Sie werden Frau L. verfluchen und den guten alten Herrn H. wieder zu schätzen wissen, der immer gute Ratschläge für Sie hatte.«

»Ich weiß auch heute ihre Ratschläge zu schätzen. Doch bin ich der Meinung, dass Sie sich irren. Es ist möglich, Frau L. nahe zu sein und sie auch zu verstehen.«

»Wie mir scheint, drehen wir uns im Kreise. Ich habe Ihnen gesagt, was Sie längst wissen – doch in Ihrer momentanen Gefühlslage einfach scheinen vergessen zu haben. Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Halten Sie sich fern von dieser Frau! Sie bringt nur Unheil! Sie werden sich nach Ihrem Besuch gebrochen und unendlich traurig fühlen. Und das nur, weil Sie Frau L. nahe sein wollten! Verachten Sie sie stattdessen! Verachten Sie sie und wünschen ihr den Tod! Stürbe sie endlich, ging es jedem besser!«

»Ich werde nun zu ihr gehen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr H. Doch im Moment brauche ich Sie nicht mehr.«

»Wir werden sehen.«

»Ach, eines noch, Herr H.«

»Ja?«

»In welchem Stockwerk wohnt die gute Frau L.?«

»Haben Sie das schon wieder vergessen? – Im obersten.«

»Und wie komme ich dort hinauf?«

»Gar nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, es gibt keinen Aufzug und auch keine Treppe, die bis ins oberste Stockwerk führt. Sie müssten schon versuchen an der Hausmauer hinaufzuklettern und darauf hoffen, dort oben ein Fenster zu finden, durch das Sie in Frau L.s Wohnung einsteigen können. Das letzte Mal, als Sie versuchten die glatte Hausmauer mit bloßen Händen und Füßen hinaufzusteigen, habe ich sie aufgefangen, als sie plötzlich hinabstürzten!«

»Diesmal werde ich es schaffen!«

»Ich werde Sie wieder fangen. Dennoch, viel Erfolg.«

»Vielen Dank, Herr H.«

 

So zog er seine Schuhe und Strümpfe aus, begab sich zur glatten Hausmauer und versuchte mit seinen Fingernägeln und seinen gegen die Wand gepressten Füßen nach oben zu klettern. Nie zuvor hatte er dabei Erfolg gehabt und auch dieses Mal sah es so aus, als würde er nicht einmal die Hälfte schaffen. Doch er nahm sich zusammen, versammelte all seine Kräfte, um an Frau L.s Fenster zu gelangen. Und tatsächlich! Er schaffte es. Endlich konnte er der Liebe nahe sein. Mit letzter Kraft zog er sich durch das offenstehende Fenster in die gemütlich warme Wohnung. Doch wo war die Liebe?!

 

Voll Wahn durchsuchte er Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Selbst im Bad war sie nicht! Die Liebe war verschwunden und er stand in einem leeren Raum. Verzweifelt rief er ihren Namen, doch erhielt er keine Antwort. Tränen flossen ihm übers Gesicht und tropften leicht zu Boden. Er schrie und sprang im Zimmer hin und her und konnte es nicht fassen, dass er sich so abgemüht hatte, um der Liebe näher zu sein.

 

Des Lebens müde, verzweifelt und ohne Hoffnung, stürzte er sich aus dem Fenster. Alles war ihm egal geworden. Sollte der Tod ihn doch holen! Doch unten im Hof stand noch immer der alte Hass, bereit ihn aufzufangen und ihn die Liebe wieder vergessen zu lassen.

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