Die Kathedrale

Als ich gestern so durch die Straßen streifte, fiel mir ein großes, gotisches Gebäude auf, das mir nicht bekannt war, obwohl mich mein Gang durch die Stadt fast jeden Tag in diese Gegend führte. Der Himmel war blau, die Straße war grau, das Gebäude war neu. Die Menschen schritten ihres Weges und zogen in Scharen an mir vorbei. Niemand schien des gewaltigen Bauwerks zu achten. Wahrscheinlich kannten sie es längst. Nur mir war es noch nicht aufgefallen.

»Hey Sie!«, sprach ich einen der Vorüberziehenden an. »Was ist das für ein Gebäude dort?«

Fragend blickte er mich an. Wahrscheinlich hat er mich nicht verstanden, dachte ich.

»Dieses gotische Gebäude – steht es schon lange dort?«

Verständnislos schüttelte er seinen Kopf und ging von dannen. »Unverschämt!«, sagte ich empört und näherte mich dem Gebäude, das von außen wie eine Kathedrale anmutete. Die Neugier trieb mich zur Tür – ich konnte sie öffnen. Schnell schlüpfte ich hinein – und fand mich im nächsten Moment auf der altbekannten, belebten Straße wieder. Verwundert wandte ich mich um und erblickte die geheimnisvolle gotische Kathe­drale. – Doch hatte ich sie nicht eben erst betreten?

 

Verwirrt blickte ich auf die Straße, die ich so gut kannte – auf der mich aber niemand kannte.

»Kann mir jemand sagen, was es mit diesem großen Gebäude auf sich hat?«, rief ich in die Menge, bekam aber von keinem Antwort.

Fast war es so, als hörte man mich nicht. Aus Trotz näherte ich mich der Kathedrale wieder und wollte schon die Klinke drücken, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Ich wandte mich um – voll Erwartung, endlich mit jemandem sprechen zu können – doch da war niemand. Nur die blaue Straße mit den vielen vorbeieilenden Menschen, die mich nicht beachteten; und hinter mir die große gotische Kathedrale.

»Nun, ich finde auch allein hinein!«, sagte ich mir und startete einen erneuten Versuch.

So trat ich zur Tür und wollte sie öffnen. Doch diesmal fand ich sie verschlossen. Jemand oder etwas wollte mich wohl daran hindern, dieses Gebäude zu betreten. Was aber sollte ich nun unternehmen, wo ich doch keinen Schlüssel hatte? Ratlos blickte ich auf die vorbeitreibenden Menschen, die sich im fließenden Strom der blauen Straße verloren.

Da kam mir eine Idee: Wenn es jemanden gab, der die große Türe vor mir verschlossen hat, dann muss es auch jemanden geben, der sie mir wieder öffnen kann! Vielleicht hat er sie ja nicht meinetwegen verschlossen und er lässt mich ein, wenn ich klopfe. – So tat ich auch. Einige Minuten stand ich gespannt und regungslos da und wartete. Doch es rührte sich nichts. – Dann plötzlich wurde ich wütend! So wütend, dass ich mit aller Kraft gegen das geheimnisvolle Gebäude anschrie:

»Warum lässt du mich nicht ein? – Was habe ich dir denn getan, dass du dich so vor mir verschließt!«

Traurig setzte ich mich an die Schwelle und lehnte mich mit dem Rücken an die Tür. Verzweifelt blickte ich auf den blauen Strom, der die zahlreichen Menschen mit sich riss. Der Himmel war indessen grau geworden. – Vielleicht sollte ich einfach aufgeben, dachte ich. Es hat ja doch keinen Zweck. Die Tür wird mir wohl für immer verschlossen bleiben! – Es wird das beste sein, wenn ich mich in die Menge stürze und im reißenden Strome untergehe ...

 

So stand ich auf und blickte gegen den tristen Himmel. Er gab nun graue Tränen von sich und ließ sie in den Strom der Menschenmenge fallen. Doch selbst darauf schienen die Mitgerissenen nicht zu achten. Sie trieben geschäftig mit dem Strom. Ich aber war bereit, mich in ihn zu stürzen und unterzugehen.

Ein letztes Mal nur wollte ich meinen Blick auf die gewaltige Kathedrale werfen, deren Geheimnis mir wohl auf immer verborgen bleiben sollte. Betrübt, den Tränen nahe, wandte ich mich um und sah, wie mir eine bezaubernde junge Frau von innen die Türe öffnete! Sie gab mir ihre reizende Hand und küsste mich zärtlich auf die Lippen. Ich war wie verändert und all die Trauer war dem Glücke gewichen. Es war mir sogar, als sähe ich den reißenden Strom, in den ich mich eben noch hatte stürzen wollen, zum ersten Mal. Nun endlich erkannte ich auch die alte Kathedrale wieder. Sie stand seit vielen Jahrzehnten neben dem blauen Fluss und unter dem grauen, weinenden Himmel. Die junge Frau und ich waren hier zu Hause und konnten uns selbst und die Welt darin vergessen.

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