Das unsterbliche Wesen

Am Anfang der Welt war die Liebe, die den göttlichen Kosmos wie warme, befruchtende Strahlen einer heiligen Sonne durchdrang. Sie erhellte das nichtige Dunkel und trieb es ans Ende des Seins. Aus ihr entsprangen die unsterblichen, göttlichen Wesen, die über nichts als sich selbst zu gebieten hatten und in glückseliger und ewiger Eintracht und Einheit über das ätherische Reich des azurblauen Himmels herrschten. Dies waren jene goldenen Zeiten, wie sie die Dichter schildern – die großen Sternstunden der Götter – die unsterbliche Einheit des Seins im Gewande der Unschuld und reinen Wahrhaftigkeit. Hesperische Zeiten in paradiesischen Gefilden – vollendete, herzliche Seelen, die in harmonischem Gleichklang wie liebliche, lichtdurchdrungene Engelsstimmen das Lied vom Lob der Unsterblichkeit anstimmten und sich als göttlicher Weltgeist über die schwarzen Wellen der vernichtenden Leere erhoben. Dieses von geheiligter Liebe durchdrungene, vereinte Wesen atmete Ewigkeit und speiste die süßen, blühenden Früchte des Wissens und der Weisheit aus dem Garten der Erkenntnis. In seiner Vollkommenheit durchsah es die Zeit, das Sein und sein eigenes unsterbliches Wesen, wusste um die Bedeutung und den Sinn aller Dinge und existierte in einer gleißenden Sphäre unendlicher Wonne und Herzlichkeit – bis es sich selbst aus dem Eden des Seins hinab in den Schlamm einer sterblichen Welt verstieß ...

 

Sein allwissendes Auge indes sah und sprach: »Die Wellen der Leere werden über mich kommen und mich all des himmlischen Glückes berauben. Gewaltvoll sehe ich sie über mich stürzen, um mich mit sich zu reißen und mich in den pechschwarzen Schlund der Leere hinab zu ziehen! In ihrer Tiefe liegt ein liebloser Grund; er liegt im zeitlosen Nichts. – Ich sehe mich von Ewigkeit zu Ewigkeit treiben, einer trostlosen und sinnentleerten Existenz überlassen! Ein nicht endendes Umkreisen des Weltenlaufs in der Eintönigkeit einer nie verstreichenden, unendlichen Zeit ...«

 

Ein nie empfundener Schauder vor der eigenen Unsterblichkeit erfasste das ewige Wesen und eine bange Sehnsucht nach dem Ende der eigenen Existenz und der Begrenzung der Zeit. Der Wunsch nach Sterblichkeit erfasste es und riss es aus der Idylle des hesperischen Friedens in die Tragik des menschlichen Lebens hinab. Es machte sich schuldig, da es sich seiner göttlichen Ganzheit entledigte und sich selbst gewaltvoll in zwei sterbliche Hälften zerspaltete, um fortan ein menschliches, sterbliches Leben zu führen, das der Ewigkeit und dem Glanze entbehrt und den verderbenden Keim des Todes in sich trägt.

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