Aufzeichnungen einer Verrückten

Als ich endlich auf der Spitze des Berges angekommen war, sah ich in das immergrüne Tal hinab und dachte bei mir selbst, wie schön es doch sein müsste, nun, frei wie ein Vogel, hinabzugleiten und über den Wipfeln der riesigen Tannen, die Luft der uneingeschränkten Freiheit zu inhalieren! – So sprang ich drauflos.

Die Flügel ausgebreitet, den Schnabel gegen die Sonne gerichtet, fiel ich, trotzdem ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte, tiefer und tiefer. Der Vogel muss im Fall das Fliegen lernen, dachte ich, sonst ist er tot. Allein, es fehlte mir wohl an der richtigen Technik, daher gelang es mir nicht, aufwärts zu steigen. –

Nun, tot war ich nicht, sonst könnte ich kaum von diesem Ereignis berichten, aber nass von Kopf bis Fuß und schäumendes Wasser umgab mich von allen Seiten. Ein kleiner Wasserfall plätscherte leise in die große, weiße Wanne, in der ich mich befand. Es schwamm dort eine aufgeblasene gelbe Ente, in der ich meine Englisch­lehrerin gespiegelt wiedererkannte. Sie hatte einen ebenso großen Schnabel, die gleichen aus­druckslosen Augen und denselben gelblich-strahlenden Teint, wie man ihn auch bei Gelb­süchtigen vorfindet. Jedenfalls musste auch sie mich erkannt haben, denn sie sprach mich an:

»Für solchen Unsinn hast du Zeit, aber deine Hausaufgaben machst du nicht!«, schalt sie mit ihrer schnatternden Entenstimme. Ja, dachte ich, eben war ich noch so sorglos und schon befinde ich mich wieder im Klassenzimmer und muss mir so etwas gefallen lassen! Wie frei ich doch eben noch als Vogel war! – Sie musste gemerkt haben, dass sie mir missfiel, denn sie setzte hinzu: »Wir sprechen uns noch.« Doch es war mir nicht danach und so tauchte ich ab.

Unter der schäu­menden Wasseroberfläche fand ich ein klares Blau, das dem des Himmels glich. Zahlreiche Schwärme zogen an mir vorbei, große und kleine und ich fragte mich, ob die Tiere des Meeres wohl neidisch waren auf die Flugwesen, die Gott nach ihnen erschaffen hatte. Dann aber stellte ich mir vor, das Meer sei ein flüssiger Himmel und die Fische seien Vögel des Wassers. Und tatsächlich hatten sie Flügel, Schnäbel und Federn und ich bemerkte, dass ich noch immer fiel. –

Ja, so musste es sein und ich vergegenwärtigte mir, dass die aufgeblasene Ente doch wohl auch nur ein gelber fliegender Fisch oder die Sonne selbst gewesen sein konnte. Schließlich trug meine Lehrerin auch den Namen Sonja, der mir neben dem eindeutigen Hinweis auf die Sonne gleichzeitig mit seinem ›ja‹ bestätigte, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte und mich noch immer im Fall befand. So musste der Wasserhahn denn auch ein Regenguss gewesen sein, der mich unterwegs getroffen hatte und die weiße Wanne, die mich umgebenden Wolken. – Vielleicht sollte ich noch einmal versuchen aufzusteigen? Ja, dieses Mal ging es doch einfacher und ich erhob mich aus der Wanne. Nackt stand ich da und meine Lehrerin schrie auf:

»Bist du verrückt geworden? Zieh dich sofort wieder an!«

Aber das Wasser tropfte mir vom Leib und ich wusste auch nicht, wo ich meine Kleidung hätte suchen sollen. Doch eigentlich konnte es der Ente egal sein – schließlich schwamm auch sie in ihrer Nacktheit durch das schäumende Wasser. Gelb war sie aber immer noch, wie eine Gelbsüchtige. Und das erwärmte mich, wie die Sonne. –

Nun, das ist Freiheit! Entledigt all der Sorgen, frei von Hose, Hemd und Schuh. Mit ihrem leeren Blick sah sie mich an, schwamm auf mich zu und schnatterte. Mir wurde immer heißer und ich erglühte am ganzen Körper. Sie schien mich zu verbrennen, diese versengende Sonne! So kam sie immer näher und näher und sah mich vorwurfsvoll und strafend an.

»Du kannst dich doch nicht einfach ausziehen!«, sagte sie verständnislos.

Da sah ich beschämt nach unten und erblickte zwei wunderschöne Berge, auf denen mein Blick verweilte. Sie zogen mich an und ich dachte bei mir: Wenn ich schon sterben muss, so will ich auf diesen Bergen meine letzten Atemzüge tun. Aus euch, so rief ich aus, aus euch, ihr Brüste der Natur, quillt das volle Leben! Stunden könnt’ mein Blick auf euch verharren, wenn die Sonne mich nicht wieder zwänge, aufzuschauen und sie mit ihrem gelben Entenschnabel betrachten zu müssen.

»Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«

Da hast du’s, dachte ich mir, schon beschwert sie sich. Da wandte ich meinen Blick nach oben und sah mir selbst ins Angesicht.

»Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die schönste Frau im Land?«, so fragte ich gegen den Spiegel.

Er antwortete mit dem Schnattern des Entenschnabels:

»Ihr, Verehrteste! Euch, liebe Sonja, betet die ganze Schule an.«

Da musste ich lachen und sah hinab in die weiße Wanne – das Wasser war mit der Zeit kalt geworden. – Immer noch bin ich feucht, dachte ich. Dabei war die Sonne doch so heiß und strahlte mich direkt an!

»Wer sich seine eigene Sonne ist, dem ist er sie niemand anders«, erklärte die schnatternde Ente.

Ich verstand sie genau und schlug wütend auf sie ein, worauf sie denn unterging und in tausend Teile zersprang. Da reute es mich und ich wusste, dass ich mir eine neue kaufen musste. Scherben bringen Glück, redete ich mir ein und so fiel ich weiter durch die immer kühler werdenden Wolkenbänke.

»It’s time to get dressed«, sagte ich mir, sah hinunter, wo die runden, majestätischen Berge thronten und das immergrüne Tal erblühte und freute mich, dass die Natur und ich so eng miteinander verbunden waren.

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