Horror Vacui
Es war einer jener düsteren Tage, die es nicht zu leben lohnt. Das Grau der Straße wurde von finsteren Wolken verdunkelt und die Sonne versteckte sich hinter ihnen, um dem morbiden Anblick dieses abgelegenen kleinen Dorfes zu entkommen.
Ein vorangegangener stürmischer Regen hatte den zerfallenen Asphalt der winzigen Nebenstraße, die am Haus seiner Eltern vorbeiführte, zum Spiegel der dreckbespritzten, einfarbigen kleinen Höfe gemacht.
Die schlammigen Pfützen, die sich in den Spurrillen und den aufgerissenen Straßenabschnitten gebildet hatten, fügten sich trefflich in das hässliche Gesamtbild dieser provinzialen Einöde, deren Häuser aus dem schwärzlichen Stein der Gegend gebaut waren und an trüben Tagen wie dunkle Schattengebilde einer finsteren Welt anmuteten: einer lichtlosen Wohnstatt der Toten.
Die kleine Kirche, die sich im Zentrum des Dorfes befand, gemahnte den Vorüberziehenden stets an die Heillosigkeit einer verdorbenen Zeit und bedeutete ihm die Abwesenheit eines Heilands oder Gottes, da sie in ihrem brüchigen, baufälligen Zustand und ihrer schäbigen Winzigkeit weder Ehrfurcht noch Glauben zu erregen vermochte.
In ihren verfallenen, übermoosten Mauern stand sie prachtlos als Zeugnis der Armseligkeit, gleichwohl eine Grabstätte Gottes. Sie wies nicht gen Himmel oder stützte dessen Gewölbe, sondern versank im schlammigen Sumpfe einer sterblichen Welt.
Kein Grashalm grünte um sie, nur der Regen durchtränkte die Härte des aufgefurchten Bodens, auf dem sie, einem heiligen Greise gleich, gebrochen und zermürbt vom steten Verfall, über viele Jahre hinweg schleichend leise verschied. Wie der allgemeine Glaube, so schien sie im matschigen Lehme der Welt zu versinken und nur das Kreuz auf der Spitze ihres mit erblassten Ziegeln bedeckten Daches behauptete sich gegen den kalten Wind und das schreckliche Wetter, die bereits in diesen ersten Herbsttagen den Landstrich gewaltvoll zermürbten.
Einsam am Dache der im Niedergang begriffenen irdischen Sphäre tropfte der bittere Regen von des Zeichens metallenen Querbalken wie verzweifelte Tränen des Heilandes Christus im erlittenen Opfertod, als er im erbebenden Tone seiner gütigen Stimme dem göttlichen Vater auf der Höhe des Schmerzes und der Verzweiflung vorwurfsvoll elend entgegenrief: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Hier aber scherte es niemanden und so blieb das Kreuz samt der Kirche seinem traurigen Schicksal überlassen.
Jedes Mal, wenn er aus dem Fenster blickte, spürte der junge Andreas diese Verlassenheit, sah den allgemeinen Niedergang des Lebens und roch den Gestank eines noch nicht begrabenen, verwesenden Gottes. Die Abneigung, die er gegen dieses trübselige Leben empfand, hatte sich in den vergangenen Jahren ins Unermessliche gesteigert; er hatte eine regelrechte Aversion gegen die hiesige Umgebung, die bäuerliche Naivität und den kleinbürgerlichen Lebensstil der Ansässigen, die ihm mehr als gleichgültig waren, entwickelt. Die stehende, schwüle Luft im Sommer, die verlassene Abgeschiedenheit und Gräue im Winter! Der stete Gestank der nahe gelegenen Bauernhöfe und die naive Einfältigkeit der Bauern ließen ihm das Leben hier abscheulich wirken.
Ekel überkam ihn, da er an seine Existenz dachte und sich gegen das von Gleichförmigkeit und Langeweile durchtränkte Dahinsiechen geistig zur Wehr setzte, wohl wissend, dass dieses Auflehnen und Widerstreben nichts anderes war als ein aussichtsloser Kampf gegen lethargisierende, entmutigende Mächte, die über dieses verlorene Stück Welt ihre Herrschaft behaupteten. Alles hier wollte ihm zu eng werden, alles schien ihm drückend, nichtig, klein. Lange schon war ihm klar geworden, dass er hier in dieser verregneten, düsteren und eintönigen Gegend nicht glücklich werden würde. Seine Familie war an dieses Leben gewöhnt; sie hatte sich damit abgefunden, dass jeder neue Tag wie der vorige verlief. Andreas aber war diese Art zu leben verhasst geworden – sein Geist sehnte sich nach dem Unbekannten, dem Ungewissen und Neuen.
Die Zyklizität der Eintönigkeit und das Fehlen jedweder Dynamik versetzten ihn in den glücklosen Zustand der Unzufriedenheit mit sich selbst und der Welt. So brachte er ganze Tage damit zu, sich Gedanken darüber zu machen, wie er dem ewig wiederkehrenden Alltag entfliehen und sein tristes Leben umgestalten könnte, um sich dem wahren, goldenen Ziel zu nähern, das er zwar noch nicht sicher zu fassen wusste, aber schon unscharf vor Augen zu haben glaubte. Wochenlang floh er vor der ihn umgebenden Wirklichkeit, indem er sich in seinem Zimmer verkroch und sich dem Studium philosophischer Texte widmete, das ihm half, die dahinkriechenden grauen Stunden hinter sich zu lassen.
Ein Ortswechsel, eine Veränderung, um selbst die Wahrheit zu ergründen – das war es, wonach er sich sehnte. Dann aber dachte er wieder an seine lieben Eltern, die kleine Schwester und die vielen Freunde, die er hier würde zurücklassen müssen und wurde traurig darüber. Er hatte diesen Gedanken bisher immer zurückgehalten und seinen Entschluss, die Heimat zu verlassen, aufgeschoben.
Nun aber blickte er erneut aus dem Fenster und meinte seine eigene Zukunft vor Augen zu sehen: Melancholisch und resigniert sah er sich die kleine Nebenstraße auf- und abschreiten. Währenddessen flossen seine besten Jahre dahin und er glaubte immer älter und älter zu werden, während die Sehnsucht nach einer fernen, ungewissen Welt immer größer und stärker wurde. Doch nun war es zu spät; er war grau geworden und der Zerfall zeichnete sein greisenhaftes Gesicht. Es glich dem zerfurchten Asphalt der Straße, der auch nach so vielen Jahren noch immer nicht ausgebessert worden war. So also verrann sein Leben, so also sollte es enden.
Eine Träne floss ihm über das raue, bärtige Gesicht und er erkannte, dass alles, was er sich in seiner Jugend so sehr gewünscht hatte – die unbekannte Ferne zu sehen, die wahre Liebe zu finden, das unbestimmte goldene Ziel zu erreichen – nun auf immer verloren war.
Frustriert warf er sich auf sein Bett und hoffte, sich selbst und sein Schicksal einen Moment lang vergessen zu können. Die Gedanken an die eigene Zukunft hatten ihn aufs Äußerste erschüttert und ihn in eine Stimmung versetzt, die ihn die Schwere des menschlichen Daseins in ihrer erdrückenden Entsetzlichkeit auf empfindlichste Weise spüren ließ. Es war die Einsicht in die Aussichtslosigkeit und Fatalität des Lebens, die ihn in solch verzweifelte Stimmung versetzte.
In diesen Momenten teilte er wahrhaftig das Schicksal des Sisyphos, der sich – zum hundertsten Male vielleicht – samt des felsigen Blockes dem Gipfel des steilen Berges nähert und in verwegener Hoffnung auf einen unmöglichen Erfolg, keuchend und schwitzend die letzten Schritte tut – um sich dann verzweifelt zu Boden zu werfen, gen Himmel zu fluchen, zu wüten und zu weinen, die Götter flehend um Vergebung zu bitten und heulend sein aussichtsloses Schicksal zu beklagen – dann aber doch zu der grausamen Einsicht gelangt, dass ihm im Grunde nichts anderes übrig bleibt, als hinabzusteigen und die ewige Mühsal von Neuem auf sich zu nehmen …
›Camus nannte dieses Bestreben absurd, ich nenne es menschlich‹, dachte er, als er sich reglos und müde seinen Gedanken überließ, die ihn immer trauriger stimmten. War es nicht das Verhängnis des Menschen, seine Strafe, zu leben? Leben zu müssen? Ohne Aussicht und ohne Ziel? Sich zu plagen, zu schinden – für nichts? – Doch worin hatte der Mensch sich versündigt, vergangen? Für welches Verbrechen ward er gerichtet und zu diesem absurden Leben verdammt? – – –
Manchmal beschäftigten ihn solche Überlegungen ganze Stunden und so lag er auch jetzt gedankenverloren auf seinem Rücken, die Augen an die graue Decke geheftet und harrte des nahenden Abends, der sich schon langsam über das dunkle Dörfchen legte.